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Ein Freund schreibt über einen Freund. Egon Fein für Max Grundig zum 75. Geburtstag.
Drei Mädchen als Geschwister
Mit seinen Schwestern verstand Max sich wie andere Jungs auch, die drei Mädchen zu Geschwistern haben. Da hat jeder seine eigenen Interessen, und im Hause Grundig berührten die sich, zum Beispiel, wenn es ums Spielen ging. Als Max noch klein war, bevor er in die Schule kam, und auch noch danach, nahm er seinen Schwestern mit Vorliebe die Puppen weg, weil er gern damit spielte. Im Gegenzug durften die jungen Damen Maxis Eisenbahn fahren.
Die Mutter zerbrach sich weiterhin den Kopf über die Zukunft ihres Sohnes. Doch die ohnehin schon geringe Hoffnung aufs Gymnasium löste sich endgültig in Luft auf, als die Herkules-Werke nach einem halben Jahr die Zahlung des väterlichen Gehalts einstellten und in eine winzige Rente umwandelten.
Die staatliche Hinterbliebenenrente von 1920
Nun blieb nur noch die staatliche Hinterbliebenenrente, und davon konnte sich selbst bei größter Einschränkung nicht einmal ein Hungerkünstler ernähren.
Was der Bescheid des Rentenausschusses der Rentenversicherung in Berlin-Wilmersdorf vom 3. August 1920 auswies, klingt für heutige Ohren unglaublich. »Nach Paragraph 57 a.a.O. beträgt die jährliche Witwenrente zwei Fünftel des Ruhegeldes, das ist 72,46 Mark; die jährliche Waisenrente je ein Fünftel der Witwenrente, das ist 14,49 Mark. Nach Paragraph 59 a.a.O. berechnet sich der aufgerundete Monatsbetrag der Rente für die Witwe auf 6,05 Mark, für jede Waise auf 1,25 Mark...
Der hiernach insgesamt zu entrichtende Monatsbetrag der Hinterbliebenenrente von 11,05 Mark, in Worten elf Mark null fünf Pfennig, wird im Voraus am Ersten jedes Monats, erstmalig am 1. September 1920, von der Hauptkasse der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte durch Postscheck gezahlt werden.«
So stand es schwarz auf weiß in dem Bescheid, unterzeichnet von einem Dr. Galler, beglaubigt von einem Oberverwaltungssekretär mit unleserlicher Unterschrift. Das war kein Druckfehler: 11,05 Mark im Monat für eine Mutter mit vier Kindern! Und ein einziges Pfund Preßsack kostete 3,60 Mark, 300 Gramm Kernseife 9 Mark...
Die Frage, wie fünf Menschen davon leben sollten, selbst wenn man die paar Mark der Herkules-Werke dazuzählte, muß wohl unbeantwortet bleiben. Das konnte man drehen und wenden, wie man wollte:
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Das Hemd war hinten und vorne zu kurz.
Marie Grundig ging arbeiten, bei den Triumph-Werken an der Fürther Straße. Sie saß den ganzen Tag an einer Stanzmaschine, damit ihre Kinder zu essen bekamen. Der Weg des kleinen Maxi war von nun an vorgezeichnet: Volksschule abschließen, Lehre, mitverdienen. Da gab's keine andere Lösung. Später würde man weitersehen.
Wer wäre damals wohl auf die Idee gekommen, daß eben dieser Einschnitt in sein Leben, diese krasse Einschränkung, erzwungen durch den frühen Tod seines Vaters, der Anfang eines Weges war, an dessen Ende der Großindustrielle Konsul Dr. Max Grundig stand?
Im April 1922 fing Max Grundig als kaufmännischer Lehrling bei der Installationsfirma Jean Hilpert (Installationstechnik, Gas, Wasserleitung) am Unteren Bergauer Platz 8 in Nürnberg an, gleich hinter der Lorenzkirche. Arbeitszeit sieben bis zwölf, vierzehn bis neunzehn Uhr, am Samstag halbtags.
Bergauer Platz, das war nicht gerade der »nächste Weg« von der Muggenhofer Straße. Die Straßenbahn kostete für einen Vierzehnjährigen ganze 30 Pfennig, und dafür gab's drei Pakete Waffelbruch - falls man drei Zehner überhaupt hatte.
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30 Pfennige für die Straßenbahn - die konnte man sparen
Der Maxi hatte sie nicht, weder für die Straßenbahn noch für den Waffelbruch. Deshalb lief er tagtäglich die knapp fünf Kilometer von der Muggenhofer Straße im äußersten Westen Nürnbergs bis zum Bergauer Platz in der Altstadt. Und das lange Zeit hindurch nicht nur einmal, sondern viermal täglich. Macht fast 20 Kilometer tagaus, tagein, jeder Weg 45 Minuten. Daß er mittags nach Hause mußte, hatte einen sehr triftigen Grund:
Mutter war krank geworden, ein Magengeschwür. Die Aufregungen, die Trauer um den frühen Tod ihres Mannes, die Sorge um die Zukunft der Kinder waren nicht spurlos an der emsigen Frau vorübergegangen. Dann kam die ungewohnte Arbeit an der Stanzmaschine, die sie klaglos auf sich genommen hatte. Es war einfach zuviel. Mutter Grundig wurde ein halbes Jahr krank geschrieben, die meiste Zeit mußte sie im Bett liegen.
Also wärmte Max das am Abend zuvor gekochte Mittagessen auf, damit seine Mutter und die Schwestern etwas im Teller hatten, wenn die aus der Schule kamen. Und das mußte verdammt schnell gehen, denn Max hatte höchstens 35 Minuten Zeit, auch wenn er sich auf dem Weg zwischen Arbeitsplatz und Wohnung noch so beeilte. Abends putzte Max die Treppen im Stiegenhaus, wenn die Grundigs an der Reihe waren.
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Mit 15 - Max Grundig geht in der Lehre
Die Lehrstelle gefiel dem jungen Grundig. Und seine Vorgesetzten mochten ihn. Sie erkannten rasch, daß da ein heller Kopf erschienen war, nicht nur fleißig, sondern immer voller Ideen. Prokurist Retzer nahm den Lehrling in sein Büro und wies ihn in die Kalkulation ein. Es dauerte gar nicht lange, und der kleine Grundig fing an, selbständig Kalkulationen aufzustellen. Für einen Lehrling nicht gerade alltäglich.
Der Prokurist Retzer, er wohnte im Nordosten der Stadt, bei der Bayreuther Straße, lud den Grundig Max häufig freitagabends zum Essen ein. Fast immer gab's Linsen und Spätzle. Aber der Junge brachte oft keinen Bissen runter, so sehr der Magen knurrte. Frau Retzer war nämlich Lehrerin und blickte furchtbar streng drein. Das verschreckte den Max, weil er glaubte, die Frau Lehrerin zähle jede Linse nach. Also ging er mehr als einmal hungrig nach Hause. Dabei hatte es der Prokurist Retzer wirklich gut gemeint.
Der Chef Ludwig Hilpert und die Pfadfinder
Mit der Zeit wurde Max zum Lieblingskind seines Chefs Ludwig Hilpert. Der hatte keine Kinder, wohnte bei seiner Mutter im zweiten Stock über dem Geschäft am Bergauer Platz 8 und betrachtete seinen jüngsten Angestellten offensichtlich wie eine Art »Ziehsohn«.
Der Chef war ein hohes Tier in der internationalen Pfadfinder-Organisation und hatte deshalb in seiner Freizeit eine Menge Schreibarbeiten zu erledigen. Als er sah, daß der Max schon nach kurzer Zeit mit affenartiger Geschwindigkeit Steno schrieb, angelte er sich das Talent für den Samstagnachmittag oder Sonntagfrüh. Er diktierte Max seine Pfadfinder-Post, die der auf der Maschine runterratterte. Zum Dank bekam er einen Laib Brot - was Besseres hätte der Chef sich gar nicht ausdenken können. So entwickelte sich ein regelrechtes Vertrauensverhältnis zwischen Chef und Lehrling, das fast familiäre Formen annahm.
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Das ging so weit, daß Max hin und wieder den kleinen Hilpert-Neffen in den Kindergarten führte. Dieser Neffe war der Sohn eines Generals oder eines sonstwie hohen Infanterieoffiziers, der mit Vorliebe zu Pferd durch die halbe Stadt in seine Kaserne nach Schweinau ritt. Max verstand das zwar nicht recht, doch es imponierte ihm.
Wandern - Samstagnachmittag oder Sonntag
Aber der Hilpert hatte auch eine Angewohnheit, die dem Maxi nicht recht gefallen mochte. Weil er nun mal ein Pfadfinder-Führer von echtem Schrot und Korn war, wanderte er gern mit seinen Jungs. Und das stundenlang. Zeit dazu blieb freilich nur Samstagnachmittag oder Sonntag - wenn er Max nicht gerade seine Post diktierte. Bekam der allerdings Wind von einer jener gefürchteten Wanderungen, kriegte er lieber Bauchweh oder Zahnschmerzen. Leider fiel Hilpert nicht immer auf diesen Trick herein, und Maxi mußte mit knurrendem Magen seine dünnen Schuhsohlen durchlaufen.
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Umzug in die Gertrudstraße 15
In der Zwischenzeit, 1923, war die Mutter mit ihren vier Kindern zwei Straßenzüge weiter gezogen, in die Gertrudstraße 15, erster Stock rechts. Die Wohnung in der Muggenhofer Straße war zu groß, zu teuer geworden. Marie Grundig sparte, wo sie nur konnte.
Es wurde ein wenig eng in der Gertrudstraße. Zwei Zimmer, eine Küche für fünf Personen. Das Haus, vier Stockwerke, ockergelb verputzt, weißgetäfelter Eingang hinter einem breiten Hoftor, schmale Stiegen mit hölzernem Geländer. Dieses Haus sah aus wie hundert andere im Stadtteil Sündersbühl auch. Aber es hatte einen Vorteil: Gegenüber waren Schrebergärten, Bäume, Sträucher und dahinter das Pegnitztal. Wenn man zum Fenster hinausschaute, sah man ins Grüne. Und die Kinder hatten Platz, sich auszutoben. Die Straße war abgelegen, hier gab es selten Autos.
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Hier wohnten fast nur einfache Leute
Das Haus gehörte einem Kleinfabrikanten Schneider, der im Hinterhof Bürsten und Pinsel fabrizierte. Im Parterre wohnte der Werkmeister Denig mit seiner Familie, neben Grundigs der Geschäftsmann Schneider, im zweiten Stock der Buchhalter Reinhold und der Schreiner Haag (über dessen hübsche Tochter Berta es noch einiges zu sagen gibt), im dritten der Schreiner Kornfelder, im vierten Stock der Mechaniker Waldmann und der Packer Wirth. Im Hinterhof gab es noch den Betrieb des M. Neidig, der Fahrradgriffe und Federhalter herstellte, und im Parterre den Milchladen Rißmann. - Es waren fast lauter einfache Leute, und diese Wohnung in der Gertrudstraße 15 wurde zur eigentlichen Heimat des Max Grundig. Hier wohnte er mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern bis 1934.
In den Lehrjahren - fast 30 Reichsmark im Monat
Damals, in den Lehrjahren, litt Maxis Lohntüte freilich noch unter Magersucht. Aber es steckten immerhin fast 30 Reichsmark im Monat drin, und das war mehr als das Doppelte der mütterlichen Hinterbliebenenrente. Brav lieferte Max jeden Pfennig zu Hause ab. Doch weil auch das nicht reichte, kamen ihm immer wieder neue Einfälle, die Haushaltskasse aufzufüllen.
Der Trick mit der Inflation 1923
Erst mal versuchte er, kaufmännischer Lehrling schließlich und auf penible Kalkulation bedacht, die Inflation 1923 zu seinen Gunsten auszuschlachten. Das ging so: Max bat die Hauptbuchhalterin, die im Hilpert'schen Laden die Kasse verwaltete, um 50 Pfennig oder eine Mark Vorschuß. Er wußte: Morgen würde diese Mark nur noch den zehnten Teil wert sein oder noch weniger, heute konnte man sich vielleicht noch eine Semmel dafür kaufen. Der Trick gelang eine ganze Weile, bis das Geld nach Millionen gezählt wurde und gerade zum Ofenanzünden taugte.
Dann war da die Sache mit den Zinnsoldaten, die auch wieder ein paar Pfennige nebenbei brachte. Nachbarn malten die Herren Soldaten zu Hause bunt an, »in Heimarbeit«, wie man es nannte. Da stiefelte der Max hin, wann immer er Zeit hatte, und half mit. Für ein paar Stunden Arbeit gab es fünfzig Pfennig.
Geld sparen - Nachhilfe beim Schuhmacher
Am Mittwochnachmittag, nach der Berufsschule (oder auch statt dessen), ließ Maxi sich von einem Schuhmacher beibringen, wie Schuhe besohlt werden. Alte, durchgelaufene Sohlen runter, neue drauf, dasselbe mit Absätzen. Dafür erntete er zwar keinen Taler, aber er konnte nun kostenlos das Schuhwerk der ganzen Familie richten. Und außerdem setzte der Schuster nach getaner Arbeit eine Tasse Kakao samt Hörnchen auf den Tisch.
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